1/3: Der hohe Preis der Billigmode - und wer ihn bezahlt
Teil 1: Kinderarbeit und moderne Sklaverei
Passend zur Fashion Revolution Week starten wir auf dem Blog mit einer dreiteiligen Serie über Arbeitsbedingungen und soziale Missstände in der Textilindustrie. Es ist wichtig, immer wieder auf diese Ungerechtigkeiten hinzuweisen, auch weil viele, die davon finanziell profitieren, dies gern verschweigen.
Der traurige Hintergrund der jährlichen «Fashion Revolution Week» ist eines der tragischsten Unglücke in der Geschichte der Textilindustrie. In Bangladesch, in der Nähe der Hauptstadt Dhaka, stürzte am 24. April 2012 das Rana-Plaza-Gebäude ein. Im achtstöckigen Gebäude befanden sich neben verschiedenen Textilfirmen auch Läden und eine Bank. Nachdem am 23. April Risse im Gebäude festgestellt worden waren, schlossen die Bank und Läden ihre Türen, die Textilarbeiter:innen wurden jedoch von ihren Arbeitgebern gezwungen, weiterhin zur Arbeit zu erscheinen.
Die Rana-Plaza-Katastrophe in Dhaka steht sinnbildlich für die prekäre Lage der Arbeitnehmenden in der Textilindustrie.
Über 1100 Menschen kostete der Einsturz das Leben, etwa 2500 Personen konnten verletzt aus den Trümmern geborgen werden. In einer anschliessenden Untersuchung der Katastrophe wurde grobe Fahrlässigkeit als Ursache festgestellt. Bangladesch ordnete als Reaktion staatliche Überprüfungen der Textilfabriken an. Bei diesen Überprüfungen wurden diverse Fabriken entdeckt, die sich nicht an die Bauvorschriften gehalten haben und zahlreiche Betriebe wurden als Reaktion geschlossen. Seither hat sich die Gebäudesicherheit der Fabriken in Bangladesch deutlich verbessert, das gilt aber leider nicht für die Vielzahl an weiteren Produktionsstandorten.
Neben der Sicherheit in den Arbeitsräumlichkeiten sind die Arbeiter:innen weltweit diversen weiteren Missständen ausgesetzt. Zwar haben sich die meisten Länder, in denen Kleidung für westliche Konzerne hergestellt wird, wie zum Beispiel China, Indien, Kambodscha oder eben Bangladesch, den Kernarbeitsnormen und den Bestimmungen des internationalen Arbeitsrechts der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) verpflichtet – eingehalten oder überprüft werden sie aber dennoch oft nicht.
Mitarbeitende werden gezwungen, bezahlte oder unbezahlte Überstunden zu leisten und oft ist ihr Lohn so tief, dass sie ohne ständige Überstunden kaum überleben könnten.
Kinderarbeit ist in praktisch allen Ländern verboten. Allerdings wird das nicht in allen Ländern gleich streng überprüft. Wenn westliche Textilkonzerne ihre Aufträge vergeben, werden sie in den meisten Fällen mindestens auf dem Papier überprüfen, dass diese Vorschriften eingehalten werden. Aber wenn die von ihnen beauftragten Firmen durch grosse Auftragseingänge überlastet sind und Aufträge an Sublieferanten vergeben, die diese vielleicht wieder weitergeben, wird es schnell intransparent. Die Fair Wear Foundation hat in einem Bericht über Textilfirmen in Bangladesch von 2016 herausgefunden, dass es gerade bei Zulieferern und Subunternehmen oft keine zuverlässigen Systeme zur Überprüfung der Altersangaben gibt und die Wahrscheinlichkeit, dass Minderjährige oder Kinder in den Fabriken arbeiten, damit gross ist.
Auch Zwangsarbeit ist in praktisch allen Ländern verboten. Oft wird jedoch die Abhängigkeit der Arbeitnehmer:innen massiv ausgenützt. Sie werden zum Beispiel unter Androhung von Kündigungen gezwungen, bezahlte oder auch unbezahlte Überstunden zu leisten oder die Bezahlung für eine reguläre Arbeitszeit von beispielsweise neun Stunden am Tag an sechs Tagen in der Woche ist so tief, dass die Arbeiter:innen keine andere Wahl haben, als mehr zu arbeiten, weil ihr Lohn unmöglich für die Lebenshaltungskosten reicht. Oft ist der Lohn an ein zu erfüllendes Kontingent gebunden, das meist nicht innerhalb einer Zeit unter 12 Stunden erreicht werden kann. Die internationale Arbeitsorganisation gibt eine Wochenarbeitszeit von maximal 48h pro Woche plus maximal 12 Überstunden vor. Viele Länder haben das so in ihre nationale Gesetzgebung übernommen. Das sind allerdings lange und anstrengende Wochen, selbst, wenn das Gesetz eingehalten wird. Die Landesstudie zur Textilindustrie in Bangladesch stellte in 97 Prozent der geprüften Fabriken übermässige Überstunden fest, die nicht freiwillig waren und kurzfristig angekündigt wurden.
Junge Mädchen müssen sich in Arbeitslagern zu unmenschlichen Bedingungen 3 bis 4 Jahre lang ihre Mitgift verdienen. Wer vorher aufgibt – sofern eine Flucht aus den kontrollierten Wohnheimen überhaupt möglich ist –, verliert oft den ganzen Lohn.
In indischen Garnspinnereien gibt es teilweise noch die verbreitete Praxis, junge Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren bei ihren armen und wenig gebildeten Familien mit falschen Versprechen abzuwerben. Die Mädchen arbeiten dann unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen für drei bis vier Jahre in einem Betrieb, um sich ihre Mitgift zu verdienen. Da sie als Auszubildende angesehen werden, wird ihnen ein Lohn weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn ausbezahlt. Ein Bericht der Organisation Femnet beschreibt die erschreckende Praxis ausführlich. Legal ist dieses Vorgehen nicht, aber durch den gesellschaftlichen Druck, der auf Frauen in Indien lastet, wird es aufrechterhalten. Indien ist nach China einer der weltweit grössten Baumwollproduzenten und entsprechend sind dort auch viele Spinnereien angesiedelt, in denen Garne aus den Baumwollfasern gesponnen werden. Schätzungen zufolge sind an die 300'000 Mädchen betroffen.
Auch die Tatsache, dass viele in der Textilindustrie Beschäftigte keinen Arbeitsvertrag haben, ist eine Art der Zwangsarbeit. Viele kennen ihre Rechte nicht, sind auf den Job angewiesen und damit der Ausbeutung hilflos ausgeliefert. Auch Lohnausweise werden nicht überall ausgestellt, was die Situation um Bezahlung und Rechte noch schwieriger macht.
In den asiatischen Ländern, wo ein Grossteil unserer «Fast Fashion» herkommt, sind die Menschen durch den Staat nicht ausreichend gegen die ausbeuterische Praxis der Arbeitgeber geschützt. Moderne Sklaverei in der Textilindustrie kommt allerdings auch in Ländern vor, wo der Arbeitnehmerschutz eigentlich gegeben wäre. Eine sehenswerte Dokumentation von ARTE hat genau diese Praktiken mitten in England aufgespürt. Und verschiedene Organisationen berichten von vergleichbaren Vorfällen in Italien oder den USA. Keine Arbeitsverträge, Stundenlöhne weit unter dem gesetzlichen Minimum, kein Versicherungsschutz, unzureichender Schutz der Gesundheit während der Pandemie, viel zu lange Arbeitstage.
Gewerkschaften bedeuten für die Arbeitnehmenden ein grosses Risiko, den Job zu verlieren und allenfalls keine Chance mehr auf eine Stelle in der Branche zu erhalten. Ein Jobverlust ohne jegliche Absicherungen kann in gewissen Ländern buchstäblich bedeuten, dass die Leute verhungern.
Das Recht auf Kollektivverhandlungen und Gewerkschaften wird in vielen Fällen höchstens auf dem Papier gewährt. Oft haben die Arbeitnehmer:innen aufgrund der hohen Arbeitslast kaum Möglichkeiten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Zudem gelangen Gewerkschafter:innen, die sich für faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung einsetzen, oft auf eine schwarze Liste der Arbeitgeber und werden nicht selten entlassen. Die in der Branche zirkulierenden Listen verhindern dann eine Neuanstellung in einer anderen Textilfabrik. Selbst, wenn der Staat also das Recht auf Gewerkschaften und Kollektivverhandlungen per Gesetzgebung erlaubt – was nicht überall der Fall ist –, kann das Recht faktisch kaum durchgesetzt werden. Gemäss einem Bericht von Human Rights Watch von 2015 haben zum Beispiel in Bangladesch weniger als zehn Prozent der Betriebe Gewerkschaften.
60 bis 90% der Arbeitnehmer:innen im Textilsektor sind Frauen, meist kaum ausgebildet und aus armen Verhältnissen. Oft sind sie Beschimpfungen, Drohungen oder sexuellen Belästigungen ausgesetzt, die aufgrund fehlender Beschwerdestrukturen in den Unternehmen nicht gemeldet werden können. In vielen Fällen kennen die Arbeiter:innen ihre Rechte nicht – und falls sie sie kennen, haben sie kaum Chancen, diese durchzusetzen. In vielen Fällen gibt es nicht genügend sanitäre Anlagen, was vor allem für Frauen, insbesondere während der Menstruation, ein Problem darstellt. Auch im Fall einer Schwangerschaft geniessen die Frauen weder Schutz noch Sonderbehandlung und der Ausfall durch die Geburt eines Kindes bedeutet neben den fehlenden Einnahmen oft einen Verlust der Arbeitsstelle.
Hier geht es weiter mit Teil 2: Zu wenig Lohn zum Leben und hier direkt zu Teil 3: Vorreiter der Globalisierung mit all ihren Schattenseiten
Quellen und weiterführende Informationen:
- Bangladesh Country Study 2015
- die moderne Form der Sklaverei in indischen Spinnereien
- Arte: Die dunkle Welt der Billigmode
- Whoever raises their heads suffers the most
- Wer sich wehrt, wird entlassen (Tagesspiegel)